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Rotary Entscheider

„Ich halte den Lockdown für grotesk“

Rotary Entscheider - „Ich halte den Lockdown für grotesk“
Hält den Lockdown aufgrund seiner dramatischen wirtschaftlichen Folgen für unverhältnismäßig: Stefan Keitel © Saja Seus

Finanzexperte Stefan Keitel über Wege aus der wirtschaftlichen Krise, fehlende Solidarität in der Eurozone und womöglich überbewertete Aktien

01.07.2020

Stefan Keitel (RC Bingen) verantwortet als Vorsitzender der Geschäftsführung der Deka Investment, der Fondsgesellschaft der Sparkassen, ein Anlagevermögen von rund 300 Milliarden Euro. Nach fast fünf Jahren bei der Deka wechselt er zum 1. August als Vorstandsvorsitzender zur neu gegründeten Dachgesellschaft HQ Holding, die die Beteiligungen der Familie Harald Quandt zusammenfasst – darunter die HQ Trust, HQ Capital und die HQ Asset Management. Die HQ-Gruppe in Bad Homburg beschäftigt rund 250 Mitarbeiter und verwaltet ein Anlagevermögen von gut 40 Milliarden Euro.

Die Coronakrise hat Europa auch in wirtschaftlicher Hinsicht hart getroffen. Die EU-Kommission rechnet damit, dass das reale Bruttoinlandsprodukt 2020 um 7,7 Prozent schrumpfen wird – in der Gesamt-EU um 7,4 Prozent. Wie kommt die EU aus der Rezession?

Tja, das sind realistische Werte. Ich könnte mir sogar noch stärkere Einbußen vorstellen, vor allem in den besonders betroffenen Staaten. Wir hatten einen Total-Kollaps auf der Angebot- und Nachfrageseite. Es war genau richtig, dass Notenbanken und Nationen Rettungsschirme aufgespannt haben, das kam schnell und überzeugend. Wenn jetzt noch die Selbstheilungskräfte der Wirtschaft greifen, könnte ich mir vorstellen, dass wir Ende 2021 in vielen Volkswirtschaften auf Vorkrisenniveau sein werden – wenn wir nicht weitere Coronawellen erleben, wovon ich aber Stand heute nicht ausgehe.

Selbstheilungskräfte?

Ich rechne damit, dass die verschiedenen Industrien lernen, mit der Krise und ihren Folgen umzugehen, und sich an neue Situationen anzupassen. Die Anpassungsgeschwindigkeit sollte man nicht unterschätzen, dabei werden notwendige Entwicklungen wie etwa die Digitalisierung sogar noch beschleunigt.

Eine zentrale Rolle bei der Krisenbewältigung kommt der Europäischen Zentralbank zu, die 750 Milliarden Euro bereitstellt und zuvor schon für mehr als zwei Billionen Euro Staatsanleihen gekauft hat, um angeschlagenen Ländern zu helfen. Was bedeutet das?

Zunächst mal, dass sich die Bilanz der EZB ausweitet, aber das ist nicht tragisch. Auch während der Finanzmarktkrise und der Eurozonenkrise war dies der Fall. Es muss dadurch nicht zwingend zu einer Inflation kommen, da sich durch die Liquiditätsspritzen der Notenbanken ja die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes nicht per se erhöht.

Ist die EZB zu mächtig? Immerhin übernimmt sie ohne demokratische Kontrolle politische Aufgaben, was die Legitimität der EU schwächt.

Na ja, immerhin hat sie ihr Mandat sehr weit gedehnt, damals, als Draghi sagte: „Whatever it takes“. Das Bundesverfassungsgericht hat vor Kurzem entschieden, dass der Anleihenkauf in diesem großen Stil so nicht rechtmäßig war. Das Problem ist, dass der Euroraum gegenüber anderen Wirtschaftsräumen ohnehin schon stärker reglementiert ist und durch ein solches Urteil seine Flexibilität noch weiter beschnitten wird.

Das Vorgehen der Notenbank damals war dazu alternativlos.

Der Internationale Währungsfonds schätzt, dass die Staatsschulden im EU-Sorgenstaat Italien auf 155 Prozent der Wirtschaftsleistung steigen, in Griechenland auf 200 Prozent. Dazu kommt, wie Sie sagten, dass die Einsätze der Notenbanken deren Bilanzen aufblähen. Müssen wir da nicht mit Staatspleiten und einer Hyperinflation rechnen, die die Währungen und Ersparnisse der Bürger zerstören? Oder kommen die Staaten von den Schuldenbergen wieder runter?

An eine Hyperinflation glaube ich nicht, wir werden sogar zunächst eher über deflationäre Tendenzen sprechen. Aus einer Phase der Unsicherheit heraus, denn die Unternehmen investieren derzeit nicht. Das Gleiche gilt für die Konsumenten, auch die halten ihr Geld zusammen. Es ist nicht die Zeit für große Neuanschaffungen. Wenn die Hilfsmechanismen und Selbstheilungskräfte greifen, könnte ich mir ab 2023 wieder Inflationstendenzen vorstellen, wenn nämlich Konsum und Investitionen wieder nachhaltig anziehen. Nur dann könnte auch die viel zitierte Lohn-/Preisspirale einsetzen.

Ernster nehmen müssen wir die Staatsverschuldung, vor allem in Italien und Griechenland. Eigentlich täte den Staaten eine Inflation sogar gut, um die Schulden wegzuinflationieren. Denn ein strammes Wachstum wie in den Dekaden der Globalisierung werden wir nicht mehr sehen. Und es ist auch nicht die richtige Zeit für Steuererhöhungen, da diese die gewünschte und dringend notwendige Stimulation ja wieder konterkarieren würden. Ins Chaos führt eine hohe Staatsverschuldung aber übrigens auch nicht per se, was am Beispiel Japan zu sehen ist, wo wir seit Jahrzehnten eine Verschuldung von über 200 Prozent haben.

Wer zahlt eigentlich die Zeche?

Mindestens noch die nächste Generation. Die Hilfspakete sind mit einem Volumen von rund 150 Milliarden Euro so gewichtig, dass der Staat das weitergeben muss. Es könnte sein, dass die Kosten auf diejenigen umgelegt werden, die überwiegend strikt gegen den Lockdown waren, nämlich Unternehmer und Selbstständige. Oder, wie gern pauschal formuliert wird, auf die Reichen. Ich halte den totalen Lockdown übrigens für grotesk.

Warum?

Man hat wohl schon vor dem Lockdown gewusst, dass der R-Faktor um oder sogar unter 1 liegt. Natürlich ist das Virus für drei bis fünf Prozent der Bevölkerung gefährlich, aber in dieser Konsequenz war das alles unverantwortlich, zumal anfangs die Dinge sogar noch unterschätzt wurden. 

Man hat ja quasi dann die ganze europäische Wirtschaft lahmgelegt, das steht für mich in keinem Verhältnis und wäre auch keinesfalls wiederholbar. Der wirtschaftliche Schaden ist immens, Pleiten sind unausweichlich. Die Folgewirkungen sind fatal, auch was Gesundheitsthemen betrifft. Wenn jetzt herauskommt, dass der Lockdown nicht nötig war, dann öffnet das Verschwörungstheoretikern sowie Rechts- und Linkspopulisten natürlich alle Türen. Je länger die Einschränkungen dauern, desto stärker rücken diese teils kruden Theorien in die Mitte der Gesellschaft. Wir bekommen also auch ein gesellschaftliches Problem. Der nun eingeschlagene Weg der Lockerungen ist daher richtig und wichtig, natürlich gepaart mit den bekannten und wichtigen Abstands- und Hygieneregeln.

Welche Schwächen der Europäischen Währungsunion hat die Pandemie offengelegt?

Dass wir strategisch-strukturell und „kulturell“ nicht gut dastehen. Mir fehlt der Glaube, dass es zukünftig konzertierter zugehen wird und ein wirklich gemeinsamer Geist erkennbar ist. Wenn es ernst wird, kämpft halt doch jeder für sich. Davon wird der Euro nicht sterben, aber die Eurozone wird eben auch nicht prosperieren.

In Deutschland hat jedes dritte Unternehmen Kurzarbeit angemeldet, die Arbeitslosigkeit ist sprunghaft gestiegen und die Verbraucher zeigen sich verunsichert. Welche Konjunkturmaßnahmen halten Sie für sinnvoll?

Die Kurzarbeitsregelung in der Breite hat schon einmal viel Flexibilität gebracht. Gabriel Felbermayr vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel hat eine Art „Lastenausgleich“ vorgeschlagen, den ich in diesem Zuschnitt entgegen dem der Nachkriegszeit oder diesen „Reichensteuer-Ideen“ sogar akzeptabel finde. Das Konzept sieht vor, dass Unternehmen, die am Ende der Krise deutlich weniger verdient haben als im Vorjahr, einen Teil ihrer branchenbezogenen Verluste ersetzt bekommen. Ich würde mir sogar wünschen, dass die Unternehmen, die in der Krise besonders profitiert haben, einen Teil ihres Gewinns temporär abgeben oder zumindest hinreichend Steuern zahlen, zum Beispiel Amazon.

Können Sie derzeit dazu raten, am deutschen Aktienmarkt zu investieren?

Aktien-Investments machen immer Sinn, allerdings ist auf den aktuellen Niveaus, wo der Löwenanteil der Coronaverluste ohne auch nur ansatzweise fundamentale Verbesserungen wieder aufgeholt wurde, die Korrekturwahrscheinlichkeit wieder gestiegen. Sukzessives Investieren ist daher angesagt, zumal ich längerfristig gesehen sogar recht optimistisch bin. Wir haben nur drei Anlageklassen, die weiter Potenzial aufweisen: Aktien, Gold und Immobilien. Dauerhaft niedrige Zinsen und Renditen führen zur Attraktivität von Aktien, denn es bleibt ja nichts anderes, was noch Gewinn abwirft. Durch die strukturellen Probleme und die nachhaltigen Notenbank-Maßnahmen werden wir auf absehbare Zeit kaum spürbar steigende Renditen und schon gar keine steigenden Zinsen sehen. Und immerhin zahlt das Gros der Unternehmen noch eine Dividende, wenn auch in Coronazeiten vielfach gekürzt. Aktien liefern im Schnitt zwar nicht mehr das Potenzial wie noch vor zehn Jahren, sind relativ gesehen aber noch immer die attraktivste Anlageklasse.

Wie viel Gold gehört ins Depot?

Bis zu zehn Prozent. Selbst auf dem aktuellen Niveau von etwa 1700 Dollar pro Unze ist das gelbe Metall noch attraktiv. Es gibt viele Unsicherheiten weltweit, dazu nachhaltig negative Realrenditen, und die Nachfrage steigt weiter. Ich denke, der Goldpreis wird spürbar über 2000 steigen.

Welche Aktienmärkte sollte man im Blick haben?

Schwierig. Der Markt ist derzeit generell anfällig für eine Korrektur, weil sich die Märkte etwas zu schnell vom Crash erholt haben. Da sind jetzt etwas zu viel Hoffnung eingepreist und zu viele Vorschuss-Lorbeeren verteilt worden. Es könnte jetzt noch mal um zehn bis 15 Prozent nach unten gehen, ehe sich die Märkte dann spätestens zum Ende des Jahres aber wieder erholen werden. Spannender ist für mich die erkennbare Sektor-Rotation, wo die doch sehr deutlich abgestraften Zykliker wieder Boden gutmachen könnten.

Das Gespräch führte Björn Lange.