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Titelthema

Vom Mythos zur Realität

Titelthema - Vom Mythos zur Realität
Tor zur viereckigen Terrasse im Tempel der Erde, erbaut 1530 (Ming-Dynastie) © Getty Images

Böden bilden Ausgangspunkte für Mythen, Weltanschauungen und Religionen, sie sind Spiegel menschlicher Existenz.

Winfried E. H. Blum01.03.2021

Zwischen Boden und menschlicher Gesellschaft bestehen enge Wechselbeziehungen, weil der Boden für den Mensch zahlreiche Leistungen erbringt: Bereitstellung pflanzlicher und tierischer Biomasse, Filterung, Pufferung und Transformation zum Schutz der Nahrungskette, des Wassers und der Luft sowie die Ermöglichung einer großen genetischen Vielfalt von Organismen. Darüber hinaus ist Boden die physische Grundlage für Wohnen, Produktion, Fortbewegung, Transport, Sport, Erholung und die Entsorgung von Abfällen. Für einige dieser Aufgaben liefert der Boden neben Wasser und Energie auch die notwendigen Rohstoffe, etwa in Form von Ton, Lehm, Sand, Kies und Schotter. Letztendlich schützt der Boden auch archäologische und paläontologische Zeugen der Erd- und Menschheitsgeschichte, was zum Beispiel zahllose Kult- und Grabstätten aus früherer Zeit bezeugen.

Eine historische Betrachtung der Beziehung zwischen Boden und Gesellschaft zeigt, dass bis vor wenigen hundert Jahren alle Bodenfunktionen am selben Ort und zur selben Zeit genutzt wurden. Erst mit Beginn des Industriezeitalters ist diese multifunktionale Nutzung wegen der räumlichen Trennung und Intensivierung einzelner Nutzungsansprüche zunehmend verloren gegangen.

Das Verhältnis Mensch – Natur

In den Anfängen der Menschheit, in der Zeit der Jäger und Sammler, bestanden kaum Gegensätze zwischen Mensch und Natur, da die wenigen Menschen in die Natur integriert waren. Erst der Gebrauch von Feuer, vor allem für die Jagd, hatte erwähnenswerte ökologische Auswirkungen.

Durch Sammeln in der Natur konnte der notwendige Energiebedarf zum Überleben nicht gedeckt werden. Nur die zusätzliche Jagd ermöglichte die Gewinnung der notwendigen Energiemengen. Darüber hinaus war Sammeln während bestimmter Jahreszeiten, in unseren Breiten im Winter, gar nicht möglich. 

Vor circa 10.000 bis 12.000 Jahren, zu Beginn des Holozäns, wurde mit der Begründung einer sesshaften landwirtschaftlichen Gesellschaft, mit der Anlage fester Siedlungen sowie mit der Zähmung von Wildtieren zur Nahrungsgewinnung und für weitere Zwecke eine Wende eingeleitet. Diese Periode dauerte bis zur Neuzeit und wurde erst durch die Entwicklung der Industriegesellschaft wesentlich verändert.

Heute werden weltweit auf etwa zwölf Prozent der Landoberfläche von circa 25 Prozent der Weltbevölkerung alle im Handel befindlichen Nahrungsmittel und hochwertigen Biomasserohstoffe erzeugt. 24 Prozent der Landfläche dienen als Weideland und etwa 31 Prozent der Fläche als Wald. 33 Prozent der festen Erdoberfläche sind für Pflanzenwachstum ungeeignet, weil sie zu trocken, zu kalt oder nicht mit Boden bedeckt sind.

Mythen und Naturreligionen

Betrachtet man die Mythologie als Versuch, die Komplexität des Verhältnisses Mensch – Natur (Boden) verständlich und erlebbar zu machen, so waren hier die Vorstellungen über die Entstehung der Welt, der Umgang mit Vorfahren und Ahnen, Rituale als Begleitung zyklischer Veränderungen der Natur zu wechselnden Jahreszeiten, zum Beispiel zur Erntezeit, von großer Bedeutung.

Bei der Entwicklung von Mythen und Naturreligionen können zwei verschiedene Formen unterschieden werden: Dies ist einmal die Verehrung des Bodens als Element der Natur, wie zum Beispiel in der griechischen Mythologie, als eines von vier Elementen neben Wasser, Luft und Feuer, in der buddhistischen Religion als eines von fünf Elementen neben Wasser, Feuer, Luft und Raum, oder in der hinduistischen Religion als eines von fünf Elementen neben Wasser, Feuer, Luft und Äther. Darüber hinaus gibt es zahlreiche weitere Naturreligionen und Mythologien, in denen der Boden als grundlegendes Element verehrt wird.

Ein anderer Zugang ist die Verehrung des Bodens als Teil der Mutter Erde, als Teil der Gesamtnaturkörper. Der Boden wird dabei nur mittelbar gesehen, da das Ziel die Bodenfruchtbarkeit ist, das heißt die Produktivität des Bodens.

In vielen Naturreligionen der Welt besteht daher noch heute der Glaube an die Kraft der Erde und des Bodens. So werden etwa Neugeborene mit dem Boden in Kontakt gebracht, und bei Schlangenbissen wird Boden auf die Wunde aufgelegt. Bei Übelkeit und Schluckauf wird Boden gegessen, was als Geophagie bezeichnet wird.

Bis heute bestehen verschiedenste Kulte der Göttin der Erde in Primär- und Naturreligionen Afrikas, Asiens, Australasiens sowie im gesamten Amerika. Eine einzige Ausnahme bildet in diesem Zusammenhang China, wo
im Daoismus sowie im Konfuzianismus der Boden direkt verehrt wurde, wie zum Beispiel im „Tempel der Erde“ und im Bodenaltar von Peking aus dem 14. Jahrhundert, bei dem Böden mit fünf Farben bis heute ausgestellt werden.

Während in den Naturreligionen und Mythen der Boden als Teil der Natur verehrt wird, hat der Boden in Weltreligionen einen anderen Stellenwert, vor allem in sogenannten Erlösungsreligionen, die von einzelnen Personen, etwa von Propheten, geschaffen wurden. Hierbei sind monotheistische (abrahamitische) Religionen wie das Judentum, der Islam sowie das Christentum von den Religionen zu unterscheiden, in denen mehrere oder viele Götter verehrt werden wie zum Beispiel im Buddhismus, Hinduismus, Daoismus, Konfuzianismus, Neo-konfuzianismus und Shintoismus, der sich aus dem Daoismus Chinas entwickelt hat. In all diesen Religionen sind unterschiedliche Bezüge zur Bodenverehrung gegeben, in der Shinto-Religion sind es zehn Bezüge.

Mit dem beginnenden Industriezeitalter zu Beginn des 18. Jahrhunderts trat die Beherrschung der Natur durch die Technik in den Vordergrund, wodurch die Naturelemente stark in den Hintergrund rückten. Heute wird der Boden äußerst funktional unter dem Gesichtspunkt der Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen für Mensch und Umwelt gesehen, wobei dem Boden sechs verschiedene Funktionen zugeordnet werden, drei ökologische Funktionen sowie drei sozioökonomische und technisch-industrielle sowie kulturelle Funktionen.

Moderne Wahrnehmung von Böden

Unter ökologischen Funktionen wird die Produktionsfunktion, das heißt die Erzeugung von Biomasse als Nahrungs- und Futtermittel und von nachwachsenden Rohstoffen gesehen, daneben die Filter-, Puffer- und Transformationsfunktion, in der der Boden durch Pufferung zwischen Atmosphäre, Pflanzen und Grundwasser eine Schutzfunktion erfüllt, sowie die Genschutz- und Genreservefunktion, unter der der Boden die Artenvielfalt schützt und eine enorme Genreserve darstellt.

Unter den sozioökonomischen und kulturellen Funktionen werden die Infrastrukturfunktion zur Bereitstellung von Flächen für Siedlungen, Industrie, Verkehr, Entsorgung von Abfallstoffen und anderes gesehen, ebenso die Rohstofffunktion zur Erstellung dieser Infrastruktur durch Bereitstellung von Materialien wie Tone, Sande, Kiese, Steine und Minerale sowie die Kulturfunktion. Böden stellen zudem als wesentlicher Teil der Kulturlandschaft ein geogenes und kulturelles Erbe dar.

Der Boden als Ausgangspunkt von Mythen, Weltanschauungen und Religionen ist heute ebenso wenig im öffentlichen Bewusstsein vorhanden wie Boden als wesentlicher Teil der Natur. Die Bedeutung des Bodens als Grundlage unserer Lebensbedingungen ist inzwischen der Gesellschaft abhandengekommen, was zu zahlreichen negativen Folgen wie Bodenverlusten und Bodenzerstörung führt. Um die Existenz unserer Gesellschaft nachhaltig zu sichern, sind neue Formen der Bewusstseinsbildung und die Entwicklung neuer Werthaltungen notwendig.


2021, bodenLeben, bea vogt, boden
© Beatrice Voigt Kunst- und Kulturprojekte München und Universität für Bodenkultur Wien

Hinweis der Redaktion: Bei dem Artikel handelt es sich um eine überarbeitete und gekürzte Version eines erstmals 2013 erschienen Artikels in "BodenLeben – Erfahrungsweg ins Innere der Erde: Annährung an eine verborgene Dimension des Lebens im Dialog von Wissenschaft, Kunst und Bildung" - Beatrice Voigt und Universität für Bodenkultur Wien (BOKU), Beatrice Voigt, 2013, 252 Seiten, 48 Euro
bea-voigt.de